Marie-Thérèse Schreiber: Modificating Singularity

Sollte man einen hauptsächlichen Kulturfaktor in der jüngeren osteuropäischen Kunstgeschichte ausmachen wollen, so käme man aller Wahrscheinlichkeit nach nicht darum herum, das Thema Migration anzuschneiden.

Das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch war es das (oft unfreiwillige) Auswandern und seine Folgen, das Leben und Arbeit einer kaum überschaubaren Menge an KünstlerInnen geprägt haben. Die Sowjetunion verbannte Joseph Brodsky, der dann in New York seine mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Essays und Gedichte schrieb;

Vladimir Nabokov verschlug es zunächst nach Berlin, bevor auch er den Sprung in die USA und ins Englische machte und der Literaturwelt den jetzt schon zeitlosen Klassiker „Lolita“ hinterließ; und Marc Chagal hieß irgendwie auch mal russischer. Da diese Migrationsprozesse aber nicht abgeschlossen sind, sondern es ganz im Gegenteil auch heute noch genügend KünstlerInnen aus Russland, Usbekistan, der Ukraine, Kasachstan etc. nach Westen verschlägt, setzen sich die Osteuropatage gezielt mit der Bedeutung von Migrationskontexten in der Arbeit junger KünstlerInnen auseinander.

Die Ausstellung „Modificating Singularity“ beschäftigt sich mit der Identität des/der KünstlerIn zwischen den Kulturen und der performativen Aneignung derselbigen. Oder sind die grundlegenden Annahmen über Kunst doch irgendwie universeller Natur? Wir haben Marie-Thérèse Schreiber, eine der TeilnehmerInnen, gefragt.

TM: Ich formuliere die erste Frage am Besten mal wie auf der Homepage. Dir ist „daran gelegen, Strukturen und Logiken zu erkennen, die alle Menschen miteinander teilen, die bei aller Transformation konstante Größen bleiben.“ Könntest du darauf kurz eingehen, einerseits erklärend,
und andererseits im Hinblick darauf, wie sich dieses (unterstellte?) gemeinsame Verständnis in Migrationskontexten und der Arbeit damit niederschlägt?

MTS: Ich glaube, dass insbesondere die Arbeiten, die ich bei dieser Ausstellung zeige, universell verständlich sind, unabhängig vom kulturellen Kontext. Mit zackigen Formen und warmen Farben assoziieren die meisten Menschen Wärme und Kraft; mit seichten, bläulichen, sich dahin schlängelnden Strukturen eher Ruhe und Konzentriertheit. Beim Betrachten der Bilder stellt sich bei vielen Menschen ein ähnliches
Gefühl ein – das ist es, was ich mit universell meine. Diese Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung deutet darauf hin, dass wir eben
nicht alle komplett in unseren eigenen (Be)deutungswelten leben, sondern durchaus ein gewisses Verständnis von der Welt teilen, wenn
auch auf sehr basaler Ebene. Das wird von Kulturrelativisten ja gerne verneint.

TM: Obwohl du vornehmlich an diesen Universalien interessiert bist, hast du dich trotzdem für einen Bildungsschwerpunkt in Osteuropastudien entschieden. Was macht daran einen besonderen Reiz aus?

MTS: Dass ich mich jetzt in meinem Masterstudium viel mit Osteuropa beschäftige, habe ich mir zu Beginn meiner Studienzeit nicht gezielt
ausgesucht. Es hat sich eher langsam entwickelt. Zuerst habe ich Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Doch da ich viele Bekannte und Freunde habe, die aus Osteuropa nach Deutschland emigriert sind, baute sich schon früh eine gewisse Nähe zu diesem Raum
auf. Meine jetzige Universität, die Europa-Universität Viadrina, kooperiert sehr viel mit osteuropäischen Partnern und wir haben viele engagierte Dozenten, die diesen Austausch auch gezielt mit Veranstaltungen wie z.B. Exkursionen fördern – da habe ich mich dann mit dran gehangen. Vor allem deshalb, weil die politische Entwicklung, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformation so spannend ist. Vieles ist noch in der Schwebe, es gibt Konflikte, nichts ist so richtig abgeschlossen, die Menschen befinden sich im Aufbruch.

TM: Und ganz einfach zum Ende: Was erhoffst du dir von der gemeinsamen Ausstellung einer Vielzahl an KünstlerInnen, die alle aus den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten stammen?

MTS: Erst einmal freue ich mich, dass wir alle die Gelegenheit haben, etwas von unseren Arbeiten zu zeigen, egal aus welchem Kontext wir stammen. Die Vielfalt der Sprachen, das heißt der individuellen künstlerischen Ausdrucksweisen, wird sicherlich für einen interessanten Mix sorgen. Das Schönste ist eigentlich immer, wenn die Besucher lange vor den Bildern stehen bleiben und darüber diskutieren, was sie sehen – das erhoffe ich mir. Dann kommen wir vielleicht auch einer Antwort auf die Frage näher, wie und auf welche Weise der kulturelle Hintergrund
Einfluss auf die künstlerische Sprache und deren Interpretation durch die Betrachter nimmt.

TM: Marie, vielen Dank für das Gespräch.

 

Veranstaltungshinweis:

Donnerstag bis Sonntag, 06. bis 09. Juli 2017, Vernissage und Finissage 19:00 Uhr, dazwischen begehbar (Eintritt frei)
Osteuropatage: Modificating Singularity
Ausstellung